Bitcoin-Blase & Blockchain-Belief

16.2 min read|4268 words|

von Michael Kirmes

am 8. Januar 2018

Teil 1: Bitcoin-Blase

Bitcoin ist Mainstream

Als ich im Sommer 2015 an der University of Arizona die “Introduction to Economics” unterrichtete, wollte ich die Volatilität von Bitcoin (BTC) als Ausgangspunkt für eine Diskussion über die Funktion von Geld als Wertaufbewahrungsmittel nehmen. Damals blickte ich allerdings in verständnislose Gesichter. Zu meiner Überraschung hatte kein einziger meiner Studenten zu diesem Zeitpunkt von Bitcoin gehört. Ich hatte — in meiner Everyday-Economics-Blase — angenommen, dass die mit dem Internet aufgewachsenen Millenials natürlich ebenso schon von der umstrittenen Digitalwährung gehört hatten, mit der man im Internet Marihuana bestellen konnte. Denn das war damals die Assoziation: Bitcoin war die Währung für libertäre Gegner der Zentralbanken, und für alle, die im Dark Web illegale Waren handeln wollten.

Inzwischen ist Bitcoin im Mainstream angekommen. Der rasante Kursanstieg von Bitcoin im letzten Jahr und inbesondere Ende November lässt alle überlegen, ob sie nicht doch etwas Geld in Bitcoin oder eine andere Cryptowährung investieren sollten, um auf die Schnelle auch ein paar Gewinne mitzunehmen. Im Dezember gab es erstmals mehr Google-Suchen nach Bitcoin als nach Donald Trump, vermutlich auch, um bei den Diskussionen auf Weihnachtsfeiern über die beste Crypto-Anlagestrategie mitreden zu können. Zum Glück gibt es da eine Erklärung von Armin von der Sendung mit der Maus.

Bitcoin ist faszinierend

Auf den ersten Blick ist Bitcoin faszinierend, und voller spannender Geschichten. Noch vor der Nutzung von Bitcoin für illegale Einkäufe auf der Silk Road des schwer ausfindig zu machenden “Dread Pirate Roberts” beginnt das schon bei der Ursprungsgeschichte von Bitcoin mit dem noch mysteriöseren Satoshi Nakamoto. Mitten in der Finanzkrise veröffentlicht er ein Papier, in dem die Funktionsweise von Bitcoin erklärt wird. Satoshi Nakamoto wird auch zum Besitzer der ersten Million Bitcoin, verschwindet dann aber von der Bildfläche. Versuche, ihn ausfindig zu machen, scheitern; der Name ist wahrscheinlich nur ein Pseudonym, seine wahre Identität bleibt unklar. (Ist es, wie so oft, Elon Musk? Eher nicht).

Mit dem Kursanstieg der Bitcoin häuften sich später nicht nur die traurigen Schicksale von auf verschrotteten Festplatten verlorenen Reichtümern, es kamen auf der anderen Seite auch zahlreiche Rags-to-Riches-Stories dazu:

Wenn man solche Geschichten liest oder hört, will man natürlich selbst auch gerne dabei sein. Und das kann man, sogar richtig aktiv, denn jeder kann selbst Bitcoins minen, das ganze ist ja dezentral angelegt. Bitcoin schafft schließlich ein neues Finanzsystem, das keine Banken als Intermediäre mehr benötigt. Und wer mag schon Banken?

Die alternative Technologie, auf der dieses neue Finanzsystem beruht, ist die Blockchain. Die Blockchain ist eine Art von Buchhaltung über Transaktionen, die nicht (wie man es sonst kennt) von einer zentralen Stelle geführt wird, sondern dezentral von mehreren unabhängigen Computern (nodes). Dadurch lässt sich ein möglicher Machtmissbrauch der zentralen Stelle ebenso verhindern wie die Gefahr, dass die zentrale Buchhaltung gehackt wird. Mehrere Transaktionen werden zu Blöcken zusammengefasst und diese werden einzeln mit eindeutigen, vom Inhalt abhängigen Codes versiegelt. Der Siegelcode der zuletzt bestätigten Transaktionen wird dann in den nächsten Block mit aufgenommen. So ist eine nachträgliche Änderung von Transaktionen nicht möglich, da alle weiteren Transaktionsblöcke ebenfalls verändert werden müssten, was enorme Rechenpower benötigen würde. Die Transaktionsblöcke sind also miteinander verkettet — daher der Name Blockchain.

Wer fest an das Projekt Bitcoin glaubt, also glaubt, dass Bitcoin die Zukunft der Währungen ist, und in der (möglicherweise fernen) Zukunft alle anderen Währungen ablöst, hat Grund zur Annahme, dass eine einzelne Bitcoin in Zukunft auch viel mehr wert sein muss. Die Gesamtzahl von maximal erzeugbaren Bitcoins ist festgelegt auf etwa 21 Millionen. Je nachdem, welche globale Geldmenge man der Berechnung zugrunde legt (und eventuelle Schwierigkeiten der dazu nötigen Energiegewinnung vernachlässigt) könnte 1 BTC möglicherweise also einmal die Kaufkraft von mehreren Millionen USD (z.B. Geldmenge heute in USD / Anzahl Bitcoins = 84 Billionen USD / 21 Millionen BTC = 4 Millionen USD/BTC) repräsentieren (USD selbst wären zu diesem Zeitpunkt ja obsolet). Das ist natürlich hoch spekulativ, sehr optimistisch was Bitcoin und sehr pessimistisch was alle anderen (möglichen) Währungen angeht, aber es zeigt potenzielle Luft nach oben. Der “wahre Wert” der Bitcoin ist somit ungewiss, da er von zukünftigen Entwicklungen abhängt, und die Meinungen selbst der Bitcoin-Experten gehen weit auseinander. Mehrere Bitcoin-Visionäre glauben dennoch: Bitcoin wird weiter steigen, das wahre Potenzial ist noch nicht erreicht.

Zahlreiche Finanzexperten hingegen glauben: Bitcoin ist eine Blase, die platzen wird. Was verschiedene Gruppen von Menschen glauben, ist deshalb wichtig, weil der Wert von Bitcoin tatsächlich nur davon abhängt, was Menschen glauben. Anders als ein Auto, mit dem ich mich auch dann noch fortbewegen kann, wenn niemand sonst es haben will, oder ein Stück Brot, dessen Nährwert ebenfalls unabhängig vom Gutdünken anderer Menschen ist, bemisst sich der Nutzen von Bitcoin, ganz ähnlich wie der Nutzen von Euro oder auch Gold, darin, dass ich diese bei anderen Menschen gegen Waren und Dienstleistung eintauschen kann. Und das funktioniert, da diese Menschen mit denen ich handle, ebenfalls darauf vertrauen, dass sie die erhaltenen Bitcoins, Euros oder Goldnuggets in Zukunft ihrerseits auch eintauschen können. Der Vergleich zu Geld und Gold zeigt, dass die Konstruktion eines solchen Vertrauens-Wertes ohne einen inhärenten Nutzwert an sich nicht verwerflich ist. Eine der wesentlichen Geldfunktionen ist, dass man es eintauschen kann, und dafür ist es nützlich, wenn der Wert des eingetauschten Geldes nicht primär von einer persönlichen Bewertung des subjektiven, praktischen Nutzens abhängt (wie bei dem Stück Brot, das für mich praktisch nützlicher ist als für jemanden mit Glutenunverträglichkeit).

Für die Eintauschfunktion von Geld (und Gold) spielt allerdings auch ein stabiler Wert eine wesentliche Rolle. Der Kurs von Bitcoin ist in den letzten Jahren enorm gestiegen, was es unattraktiv macht, Bitcoin zum Einkaufen zu benutzen (die 2010 für 10.000 Bitcoin gekaufte Pizza ist das berühmteste warnende Beispiel). Das Halten von Bitcoin hat sogar seinen eigenen Begriff: HODL, “Hold On for Dear Life”, ursprünglich allerdings nur ein betrunkener Typo für “hold”. Wer lange gehodlte Bitcoins verkauft, kann viel Geld (also USD, EUR …) verdienen. Geht der Aufstieg dann allerdings weiter, führt das zu einem Dilemma, wie es Frances Coppola bei Forbes formuliert:

he will lose all those profits and more if he later decides to buy back in, but if he doesn’t buy back in, he will lose any subsequent gains from Bitcoin price rises.

Und selbst wer überhaupt nicht an das Projekt Bitcoin als solches glaubt (oder es überhaupt verstanden hat) könnte dennoch beobachten, dass es eine große, möglicherweise sogar wachsende Anzahl von Menschen gibt, die zumindest an einen steigenden Wert von Bitcoin glauben. Entsprechend sollte dieser Mensch erwarten, dass Bitcoin im Wert weiter steigt — und gehört damit selbst zu den Menschen, die an einen steigenden Wert von Bitcoin glauben. Dieser sich selbst verstärkende Prozess ist es, was üblicherweise als Blase verstanden wird: möglicherweise glaubt niemand an das zugrunde liegende Projekt, aber da alle erwarten, dass alle eine Preissteigerung erwarten, wollen alle mitverdienen, und es gibt eine Preissteigerung.

Unter den Bitcoin-Investoren finden sich sicherlich beide Gruppen. Einige Bitcoin-Besitzer machen nur mit, weil es so aussieht, als geht der Aufstieg noch weiter, als ließe sich also noch weiterhin Profit machen. Andere Bitcoin-Besitzer hingegen glauben an das Projekt; daran dass Bitcoin sich “durchsetzen” wird, wenn auch sicherlich unbedingt mit einem Wert von mehreren Millionen Dollar pro Bitcoin. Aber selbst wenn wir noch unter dem “wahren zukünfrigen Wert” von Bitcoin liegen, ist der Anteil der Blasen-Spekulanten ein Problem. Denn dieser Anteil ist weiterhin viel volatiler; er bleibt nur dabei, solange er glaubt, genügend andere bleiben ebenfalls dabei. Ein kleiner externer Schock kann ausreichen, dass der Kurs von Bitcoin wieder abstürzt.

Erik Finman, der oben erwähnte High School-Dropout Bitcoin-Millionär, gehört sicher zu den Bitcoin-Visionären. Entsprechend äußert er sich optimistisch:

I think cryptocurrency as a whole has a lot more to go. It’s the next big thing. The only way you can take down Bitcoin is not through its own doing, but if you make some better alternative to it. Whatever the winning cryptocurrency is — and right now that’s Bitcoin — will get to millions of dollars of coin.”

Er mag Recht haben, aber die Unsicherheit darüber, welche die “winning cryptocurrency” ist, macht jegliches Vorhersagen eines “wahren Wertes” von Bitcoin zum Rätselraten. Es gibt sehr, sehr viele alternative Kryptowährungen, alle mit ihren eigenen kleinen Alleinstellungsmerkmalen.

Im Sommer hat sich Bitcoin — im Streit zwischen zwei Fraktionen — in zwei parallele Bitcoins aufgeteilt: Bitcoin und Bitcoin Cash. Zunächst sah es so aus, als würde Bitcoin Cash aufgrund mangelnden Plattformsupports untergehen. Vor kurzem hat Bitcoin Cash aber doch seinen Weg auf Coinbase, einen der größten Krypto-Handelsplätze gefunden, was wiederum zu einem kleinen Crash der Original-Bitcoin führte.

Beim Streit ging es um eine Erweiterung der Blockgröße, um Transaktionen zu beschleunigen. Da der Rechenprozess für einen Transaktionsblock durchschnittlich 10 Minuten dauert und die Blockgröße begrenzt ist, schafft die Bitcoin nur etwa 7 Transaktionen pro Sekunde. Das VISA-Netzwerk schafft hingegen nach eigenen Angaben bis zu 56.000. Ein Vorsprung in der Geschwindigkeit könnte auf dem Weg zur globalen Währung also durchaus ein Vorteil sein.

Bitcoin selbst setzt dafür stattdessen auf Innovationen wie das Lightning Network: Die Lösung von Bitcoin Cash, so Elizabeth Stark von Lightning Labs,

“is like simply adding more lanes to a highway: It seems like an obvious and straightforward way to increase capacity and speed, until someone builds a plane and bypasses the gridlock entirely. That plane is the Lightning Network.”

Analogien wie diese werden immer dann nötig, wenn technische Erklärungen sehr kompliziert sind. Eine ganze Reihe solcher Analogien findet man auch, wenn man sich mit dem für Bitcoin zentralen Mechanismus des “proof of work” beschäftigt. Durch die multiple, dezentrale Buchführung entsteht das neue Problem, das die einzelnen nodes wahrscheinlich nicht immer alle in Übereinstimmung sind — möglicherweise nur auf Grund von Übertragungsfehlern, aber auch dunkle Machenschaften könnten natürlich zu Diskrepanzen führen. Ein reiner Mehrheitsbeschluss reicht ebenfalls nicht aus, weil es zu einfach ist, zusätzliche virtuelle nodes hinzuzuschalten, die gefälschte Bücher bestätigen würden.

Die Bitcoin-Blockchain löst dieses Problem, indem sie die Abstimmung an die Teilnahme an einem komplexen Rechenprozess bindet (das ist der “proof of work”). Das Problem ist, obwohl proof of work ein essentieller Teil der im Bitcoin-Papier beschriebenen Blockchain ist, ist dieser Ansatz nicht unumstritten. Ben Laurie beschrieb seine Bauchschmerzen mit dem Konzept schon 2011 folgendermaßen:

if you are going to deploy electronic coins, why on earth make them expensive to create? That’s just burning money — the idea is to make something unforgeable as cheaply as possible. This is why all modern currencies are fiat currencies instead of being made out of gold. Bitcoins are designed to be expensive to make: they rely on proof-of-work.

es folgt die schöne Analogie:

Suppose I take 20 £5 notes, burn them and offer you a certificate for the smoke for £101. Would you buy the certificate? This is the value proposition of Bitcoin. I don’t get it. How does that make sense? Why would you burn £100 worth of non-renewable resources and then use it to represent £100 of buying power. Really? That’s just nuts, isn’t it? I mean, it’s nice for the early adopters, so long as new suckers keep coming along. But in the long run it’s just a pointless waste of stuff we can never get back.

sowie folgendes Bild:

The core problem Bitcoin tries to solve is how to get consensus in a continuously changing, free-for-all group. It “solves” this essentially insoluble problem by making everyone walk through treacle, so it’s always evident who is in front.

Damals wurde Laurie beschuldigt, Bitcoin nicht verstanden zu haben. Das Problem stellt sich heute, wo Bitcoins wesentlich mehr wert und der Anreiz zum Bitcoin-Mining umso größer ist, tatsächlich aber wie folgt da:

Einige der alternativen Währungen nutzen deshalb andere Methoden, wie proof of stakeproof of activityproof of capacityproof of storage, oder unique node lists. Das bedeutet: selbst wenn man die Grundidee und die Vision, das Problem sowie die Lösung dazu, die in der Bitcoin-Blockchain steckt, verstanden hat (was wahrscheinlich bereits nur für einen Bruchteil der Bitcoin-Investoren der Fall ist) ist nicht klar, ob die Bitcoin-Lösung die beste ist, oder ob ihre engen Verwandten, die die gleiche Grundidee und Vision haben und das gleiche Problem etwas anders lösen, sich nicht mit der Zeit aufgrund besserer Technologie durchsetzen werden. Man muss die anderen Lösungen nicht nur verstehen, sondern auch gegeneinander bewerten, und das setzt vermutlich weitergehende Kenntnisse in Informatik voraus.

Bitcoin hat noch mehr Probleme

Die Transaktionsgeschwindigkeit und der Energieverbrauch sind zwei Hindernisse bei der Skalierbarkeit. Die Blockchain verlangt außerdem einiges an Speicher- und Rechenkapazität. Wieder Elizabeth Stark:

“What if in order to send an email you had to download every email that anyone had ever sent? That would be super inefficient, right? You’d never send any emails from your phone. That’s how blockchains work.”

Victor Grishchenko schrieb dazu schon 2011:

First of all, that is the opposite of scalability. Such a system is not “decentralized”, but more like a “replicated center” system, as there is an absolute necessity to gather all the existing data in a single point to make any meaningful operation. Partial knowledge does not work.

Die Lösung, stattdessen mit “Super-Peers” zu arbeiten, die alle Daten halten, während normale “peers” dies nicht tun müssen, beschrieb er so:

Thus, Bitcoin is only “peer-to-peer” in the sense of the British Peerage system. Bitcoin “commoners” must appeal to their “lords” who have sufficient means to judge on validity of transactions and to seal those transactions as valid, likely for a fee.

Eine Lösung ohne Intermediäre sieht sicher anders aus. Und die Gebühren dafür, an die Spitze der Schlange von Bitcoin-Transaktionen zu kommen, sind inzwischen erheblich:

All dies zeigt, dass es nicht offensichtlich ist, dass Bitcoin eine saubere technische Lösung ist; nicht einmal, dass es die bestmögliche Lösung ist, die wir finden können. Ich will mir sicher nicht anmaßen, den nahenden Tod von Bitcoin auszurufen und damit bei steigenden Kursen unter allen vergangenen Bitcoin-Todesanzeigen zu landen. Aber selbst wer an das “Projekt Bitcoin” glaubt, kann nicht sicher sein, dass es die Bitcoin sein wird, die es zur Vollendung bringt.

Teil 2: Blockchain-Belief

Blockchain Boom

Wer vom Hype um das Spekulationsobjekt Bitcoin einen Schritt zurücktritt, stößt jedoch in einen weiteren Hype um die Blockchain, die Technologie, welche die Bitcoins und andere Kryptowährungen antreibt (und somit offenbar agnostisch gegenüber genaueren Spezifikationen wie der Methode des proofs ist). Das Credo hier: Bitcoin hin oder her, die Blockchain ist jedenfalls eine Zukunftstechnologie, das “Internet of Value-Exchange”, das “Web 3.0” oder sogar eine “Technologie des 22. Jahrhunderts, die zufällig ins 21. Jahrhundert gefallen ist”. Die Blockchain hat eine Reihe von TED Talks inspiriert, darunter einen von Don Tapscott, dem Autor von Wikinomics, der nun gemeinsam mit seinem Bruder das “Blockchain Research Institute” führt und das Buch “Blockchain Revolution” veröffentlicht hat.

Als wir im August 2017 die 60 Subtrends zu unseren 12 Megatrends festlegten, mussten wir ebenfalls nicht lange diskutieren, dass die Blockchain dazugehört. In den letzten Jahren taucht die Blockchain immer wieder im Zusammenhang mit spannenden Innovationen auf.

Blockchain-Boo!

Der Hype um die Blockchain führt auch dazu, dass zahlreiche Unternehmen sich plötzlich der Blockchain verschreiben, was ihren Wert in die Höhe schnellen lässt, ohne dass es dafür weitere Gründe gibt:

Bringt die Blockchain überhaupt dieses Nächste Große Ding? Kai Stinchcombe bemängelte kürzlich in einem weit beachteten (und viel kritisierten) Artikel, dass die Blockchain seit der Veröffentlichung des Bitcoin-Papers noch immer keinen wirklichen Nutzen bewiesen habe. In sieben verschiedenen Bereichen, deren Welt die Blockchain revolutionieren soll (von Banking über Smart Contracts zur Echtheits-Verifizierung von Personen oder Waren) zeigt er auf, dass die Blockchain-Anwendung

  • entweder ineffizienter ist als bisher bestehende Lösungen,
  • oder dass die Irreversibilität der Transaktionen unerwünscht ist, da in der Vergangenheit selbst mit der Blockchain-Technologie bereits Fehler passiert sind,
  • oder dass die Nutzer weitergehende Bedürfnisse haben, die die Blockchain-Lösungen nicht erfüllen (bestehende Plattform-Lösungen hingegen schon).

Ich empfehle die volle Lektüre.

Ein etwas positiveres, wenn auch im Vergleich zum Hype immer noch pessimistisches Bild zeichet Jon Evans. Blockchain sei nicht das neue Internet, sondern das neue Linux. Das ist nicht per se abwertend gemeint — Linux powert auch heute noch unzählige Datenzentren und 2 Milliarden Android-Geräte. Aber Linux tut dies, ohne dass die meisten Menschen davon wissen, oder am Kauf eines Linux-Computers interessiert wären. Obwohl es anders hätte laufen können, bedient Linux nur einige ausgewählte Nerds, die allerdings essentielle Infrastruktur darauf aufgebaut haben. Dasselbe Schicksal prognostiziert Evans auch der Blockchain.

Auch Vitalik Buterin, der Gründer von Ethereum, einer der wichtigsten, größten und der vermutlich versatilsten Kryptowährung, hat sich vor kurzem eher mahnend in einem Tweetstorm zu den großen Versprechungen der Blockchain geäußert:

So total cryptocoin market cap just hit $0.5T today. But have we *earned* it? How many unbanked people have we banked? How much censorship-resistant commerce for the common people have we enabled? How many DApps have we created that have substantial usage? Low added value *per user* for using a blockchain is fine, but then you have to make up for it in volume. How much value is stored in smart contracts that actually do anything interesting? How many Venezuelans have actually been protected by us from hyperinflation? How much actual usage of micropayment channels is there actually in reality? The answer to all of these questions is definitely not zero, and in some cases it’s quite significant. But not enough to say it’s $0.5T levels of significant. Not enough.

Darauf aufbauend hinterfragt Faisal Khan bei TechCrunch, wie universell die Werte der Blockchain auf einer globalen Ebene eigentlich sind. Zwingt die Blockchain anderen Kulturen eine Form der Anarcho-Demokratie auf, die außerhalb der USA nur wenig Liebe findet? Übersieht sie vielleicht sogar bekannte Probleme demokratischer Entscheidungen? Und lösen Blockchain-Innovationen auch Probleme von Menschen, die fast nichts besitzen, oder ist sie in Maslows Bedürfnispyramide nicht eher oben anzutreffen?

Alle diese Kritiken, die in der einen oder anderen Form die Wünschbarkeit dieser Innovationen mehr in den Vordergrund rücken, schreien (nicht nur für mich, sondern auch für Faisal Khan) nach einem Design Thinking-Ansatz.

Ähnlich Stinchcombe:

With all the money spent on bitcoin cash registers, nobody went out and did a survey about whether most credit card users would be willing to give up their frequent flyer miles in return for also losing the ability to dispute a transaction.

(Vielleicht war der Blockchain-Business-Model-Design-Thinking-Workshop meiner Alma Mater, der Frankfurt School, also nicht bloß Buzzword-Bingo, sondern eine lobenswerte Idee.)

Blockchain-Boost

Ist der Blockchain-Optimismus also auch übertrieben?

Ich war lange Zeit etwas skeptisch, was das wahre Innovationspotenzial der Blockchain anging. Die Heilversprechen sind schier endlos, was selten ein gutes Zeichen ist. Gleichzeitig sind einige ziemlich intelligente Menschen von der Blockchain-Revolution überzeugt. Und viele Unternehmen offenbar auch. Dabei wirken viele der Blockchain-Innovationen nur minimal besser als das, was auch mit “normalen” digitalen Lösungen möglich ist . Vielleicht sind sie moralischer, weil sie besonders transparent oder dezentral oder demokratisch sind, aber spielt das für viele Unternehmen eine große Rolle in der Gestaltung ihrer Infrastruktur?

Gerade in Deutschland ist die Furcht vor der Digitalisierung groß. Viele Unternehmen sind unzureichend auf eine digitale Zukunft vorbereitet, viele sind nicht mal richtig in einer digitalen Gegenwart angekommen.

Von diesem Ausgangspunkt aus klingen auch potenziell nur marginale Verbesserung der Blockchain gegenüber dem digitalen state of the art nach einem Riesensprung in die Zukunft.

So schreibt wieder Stinchcombe:

Amazon’s terms of service are not a smart contract, but the billing system that implements those terms is automated. To the extent that health insurance billing, for example, is not automated, the problem isn’t that existing software isn’t “smart” enough to handle submitting claims and paying them electronically, it’s that the insurance company is slow moving, either by accident or because they on-purpose prefer a human review.

Ein schönes, richtig deutsches Beispiel liefern die LBBW und die Deutsche Bank, die bei der Vergabe eines Schuldscheins in einem Blockchain-Versuch die neue Technologie gegen den klassischen Weg antreten ließen. Ab Minute 3:04 erläutert Jochen Erdle, der Leiter der Corporate Finance der LBBW, dass selbst beim “Marktführer für Schuldscheindarlehen” die Informationen bisher per Fax bestätigt werden müssen.

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Eine ähnliche (wahrscheinlich konstruierte) Situation in den USA beschreibt David Veksler bei der sehr marktliberalen “Foundation for Economic Education”.

I owed several thousand dollars to a friend. At first, I tried to find a way to send the money electronically through my bank. You need a business bank account to send via ACH transfer. I could do a wire transfer, but my bank charges the sender $30 and the recipient $15, and requires a lot of information about the recipient’s bank account.

Verschiedene digitale Startups sind ebenfalls keine Lösung, da sie nicht funktionieren, der Betrag zu hoch für das System ist oder hohe Gebühren erfordert. Also schreibt der Autor einen Scheck — was in den USA noch erschreckend üblich ist — aber dieser wird erst zurückgesendet, weil die Briefmarke abfällt, und geht dann angeblich in der Post verloren. Oder wurde er geklaut? Vom Housesitter, oder vom Postboten? Die erneute Zusendung kostete eine weitere Stunde Zeit und 40 $ und dauerte eine weitere Woche. Und bei einem Betrag über 10.000 $ kann die Steuerbehörde sich immer noch für eine weitere Prüfung der Transaktion entscheiden.

Ein ähnlich erschreckendes Bild zeichnet sich bei IBMs Blockchain-Lösung für Lebensmittelsicherheit ab. Im Juni 2017 gab Walmart bekannt, dass die Blockchain-Tests die Zeit, die es dauert, die Lieferkette von Mangos nachzuvollziehen, auf 2.2 Sekunden reduziert hätten — von vorher sieben Tagen. Bei einem Ausbruch von Salmonellen durch verunreinigte Papayas dauerte es (ohne Blockchain) sogar zwei Monate, bis die Quelle gefunden war.

Wenn in so einer Situation dann eine tolle, neueste, sichere Top-Technologie angepriesen wird, die verspricht die Welt zu revolutionieren, gleichzeitig aber eigentlich nur eine Form von verschlüsselter, verteilter Buchführung ist (das klingt eher… langweilig), dann wirkt es so, als wäre das vielleicht eine machbare, brauchbare Lösung. Vielleicht ist es sogar eine Möglichkeit, die ganze komplizierte Digitaltechnologie, die man bis dahin verpasst hat oder an die man sich nicht rangetraut hat, zu überspringen, und wieder ganz vorne an der Spitze mitzumachen.

Wenn es das ist, was wir brauchen, um den zögernden deutschen Mittelstand in ein digitales Zeitalter zu holen, hoffe ich, dass der Blockchain- und von mir aus auch der Bitcoin-Hype noch eine Weile anhalten. Dezentral verteilt, sicher in der Benutzung und vor feindlichen Angriffen, ethisch und demokratisch, egal ob mit proof of work oder proof of capacity, technisch state of the art, aber gleichzeitig trotz einiger Erfolgsstories eigentlich wenig sexy, besser unbemerkt im Hintergrund und eher ein Garant für inkrementelle Verbesserungen, trotzdem mit der Ambition, die Welt anzutreiben— der deutsche Mittelstand und die Blockchain wirken doch wie gemacht füreinander!

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