Mitigation of Shock (Deutschland)

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von Michael Kirmes

am 12. August 2021

Vor 12 Jahren habe ich mal eine Paneldiskussion zum Thema häusliche Gewalt moderiert, die zum Begleitprogramm der Wanderausstellung “Rosenstraße 76” gehörte.

Die „Rosenstraße 76“ macht häusliche Gewalt in dem Umfeld sichtbar, in dem sie auftritt – innerhalb einer ganz normalen Wohnung. Spuren der Gewalt lassen sich beim Suchen in den Zimmern der Wohnung finden – im Bücherregal, auf Urlaubsbildern oder dem Anrufbeantworter, in Form einer Bierflasche und in Tagebüchern. Dennoch: Eigentlich wirkt die „Rosenstraße 76“ wie eine ganz normale Dreizimmerwohnung.

Das Perfide an der häuslichen Gewalt ist eben, dass sie oft verborgen bleibt.

Das Perfide an der Zukunft ist ebenfalls, dass sie verborgen bleibt, bis sie irgendwann Gegenwart und damit zur sichtbaren Realität wird.

So war es möglich, die letzten 40 Jahre lang Diskussionen darüber zu führen, ob es wirklich einen Klimawandel gibt und ob der wirklich schlimm genug sein wird, dass dagegen etwas getan werden muss.

Das Londoner Design Studio Superflux schuf daher ebenfalls eine interaktive Wohnung, um diesen “disconnect between scientific, data driven predictions of global warming, and the lack of immediately visible signs” zu verkleinern.

„Mitigation of Shock“ zeigt eine Wohnung des Jahres 2050, nach Klimakatastrophen, gestörten Lieferketten und daraus resultierendem Eco-Terrorismus, in der praktisch alles darauf ausgerichtet ist, mit einer Welt ohne ausreichende Nahrungsmittel zurechtzukommen.

Das Wohnzimmer ist vollgestellt mit einer aus alten Elektrogeräten selbstgebastelten Indoor-Farm, die die ganze Wohnung in violettes Licht taucht. Auf dem Couchtisch liegen Zeitungen, die von den letzten schrecklichen Ereignissen berichten, auf dem Küchentisch eine Liste mit Ergebnissen verschiedener Lebensmittelexperimente. Im Küchenregal finden sich Bücher mit Titeln wie “Diet for a Small Planet”, “New Meat”, “Pets as Proteins” und “Foraging in Reclaimed Flood Zones”.

Ich habe die Wohnung 2018 in der Ausstellung “After the End of the World” in Barcelona besucht. Von all meinen Beschäftigungen mit möglichen Zukünften war diese ganz deutlich die eindrücklichste. Sich in den Zimmern zu bewegen, Schubladen zu öffnen und in den Zeitungen zu blättern, machte eine Zukunft unmittelbar erlebbar, die sicher niemand von uns erleben möchte.

Anfang 2020 wurde die Wohnung mit einigen Updates und lokal angepasst in Singapur nochmal ausgestellt. Inzwischen sind die Bücher und die anderen Bestandteile des Apartments wieder in London, wo sie eingelagert wurden, aber nun — fiese Ironie des Schicksals — den dortigen Überschwemmungen zum Opfer gefallen sind.

Mit den Überflutungen ist eine Zukunft, die niemand von uns erleben möchte, plötzlich zu einem Teil der Gegenwart geworden.

Diesmal haben auch nicht *nur* ein paar Bäume gebrannt, und es ist nicht *bloß* der Rheinpegel etwas gesunken. Es sind viele Menschen gestorben, und es wurden noch mehr Existenzen vernichtet. Und das auch nicht in der quasi *ungezähmten Wildnis* Kaliforniens, Kanadas oder Sibiriens, sondern in Regionen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, die schon seit den Römern besiedelt sind. Die Auswirkungen der Flut sind jetzt sehr “immediately visible”, manchmal sogar direkt im Hintergrund einer Pressekonferenz eines Kanzlerkandidaten.

Über 200 Wohnhäuser sind durch das Wasser zerstört worden, und deren Bewohner werden jetzt wie die fiktiven Bewohner des Londoner Superflux-Apartments sehen müssen, wie sie das Nötigste mit den vorhandenen Mitteln zusammenstellen können. Über 200.000 Menschen waren wegen der Flut eine Weile ohne Strom, und haben die Zerbrechlichkeit unserer Infrastruktur erfahren, etwa die Hälfte von ihnen sogar länger als einen Tag. Aber für die restlichen 99,75% der deutschen Bevölkerung war das dennoch nur eine weitere Katastrophe im Fernsehen, ohne unmittelbare Betroffenheit. Und wir Menschen sind ziemlich gut darin, solche Informationen nicht an uns heran zu lassen, nicht auf unser eigenes Leben zu übertragen.

Der neue Bestseller „Deutschland 2050“ beschreibt endlich konkret, wie sich der Klimawandel auf unser Leben in der Bundesrepublik auswirken wird. Die ZEIT beleuchtet in einem neuen Schwerpunkt über verschiedene Gegenden Deutschlands nun „welche Klimafolgen das eigene Zuhause bedrohen“. Aber obwohl diese Beiträge die Klimakrise so gewissermaßen zu uns „nach Hause“ bringen, so machen sie sie doch noch nicht „erlebbar“.

Um die Gefahr häuslicher Gewalt „erlebbar“ zu machen, tourte die “Rosenstraße 76” elf Jahre lang durch verschiedene Städte der DACH-Region, bevor sie 2016 in Osnabrück eine permanente Heimat für Schulungen fand. Sie wurde auf ihrer Reise nicht nur in leerstehenden Wohnungen untergebracht, sondern auch in Kirchengemeinden, Volkshochschulen, Sparkassen und sogar in einem Möbelhaus.

Deshalb finde ich es schade, dass „Mitigation of Shock“ in der Flut beschädigt wurde, aber noch trauriger finde ich, dass die Inhalte der Wohnung überhaupt eingelagert werden mussten. Jede Stadt und jedes Unternehmen sollte sich die Finger lecken nach so einem Exponat.

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