Wie haben sich die Megatrends durch die Coronapandemie verändert? Diese Frage wollte vor Kurzem die Thüringer Kreativagentur in einem kurzen Impulsvortrag beantwortet wissen. Wie sieht die neue Wirklichkeit aus, insbesondere mit Blick natürlich auf die Kreativwirtschaft?
Ein Mitschnitt des Kurzvortrags findet sich inzwischen auf dem Kanal des THAK-Forums auf Youtube.
Hier möchte ich die Quellen nachlegen und bei einigen Punkten noch etwas mehr in die Tiefe gehen, als es ein 15-minütiger Impuls erlaubt.
Von Megatrends haben vermutlich die meisten schon gehört, aber ich möchte dennoch kurz darauf eingehen, was das eigentlich ist.
Der Begriff und das Konzept von Megatrends gehen auf John Naisbitts Buch gleichen Namens von 1982 zurück. Er beschrieb darin 10 neue Richtungen, welche die amerikanische Gesellschaft bereits eingeschlagen habe, und die die folgenden Jahre und Jahrzehnte bestimmen würden. Naisbitt berief sich dabei auf viele kleine Beispiele und Zahlen, die er und sein Team der Naisbitt Group in regionalen und überregionalen Zeitungen gefunden und sortiert hatten. Megatrends stellten dabei den Versuch dar, Dinge, die eigentlich schon bekannt waren, in ein breiteres Framework größerer Restrukturierungen einzusortieren. (Naisbitt schreibt im Vorwort der Taschenbuchausgabe: “The most universal (and flattering) comment I receive goes something like this: ‘I sort of knew about the things in your book, but you put them all together for me for the first time.’”)
Die resultierenden Megatrends waren also zunächst Beschreibung der Gegenwart, nicht der Zukunft, auch wenn natürlich Empfehlungen und Warnungen aus den bestehenden Entwicklungen abgeleitet wurden. Das Buch besticht insbesondere durch seinen Optimismus. Naisbitt nannte die damalige Zeit die “Zwischenzeit”, die “time of the parenthesis” zwischen zwei stabilen Zeitaltern, und sah sie als fantastische Zeit voller Möglichkeiten zur Gestaltung einer noch besseren Zukunft an. Dennoch warnte er auch, dass Unternehmen, die die großen Verschiebungen nicht rechtzeitig und richtig einzuschätzen vermögen, in Zukunft zu scheitern und zu versagen drohten.
Inzwischen werden Megatrends von so ziemlich allen Zukunftsberatungen ausgerufen, die etwas von sich halten. Die Listen variieren in Details und in der Betitelung einzelner Trends, zählen aber im Großen und Ganzen die gleichen ganzen großen Begriffe auf, die generell die Zukunftsdiskussion prägen, wobei oft Naisbitts optimistische Grundhaltung beibehalten wird.
Wenn ich Menschen erkläre, was ich so beruflich mache, lautet die Frage öfter mal “Und, was sind die momentanen Megatrends?” — “Die kennst du eigentlich schon, die sind nämlich eben nix neues, sondern Veränderungen, die schon lange andauern” antworte ich dann. “Globalisierung, Urbanisierung, Demografischer Wandel, Individualisierung. Digitalisierung ist vielleicht noch etwas jünger, aber dass das ein Megatrend ist, überrascht heute auch niemanden mehr.”
Dazu kommen noch ein hohes und weiter steigendes Bedürfnis nach Gesundheit und nach Nachhaltigkeit sowie eine wachsende Diversität (kulturell, geschlechtlich, individuell). Die von Naisbitt bereits beschriebene Transformation zur Wissensökonomie, und damit einhergehend “New Work”, also der nötige Umbau der Arbeitswelt. Und, vielleicht noch auf dem Weg, erst zu richtigen Megatrends zu wachsen, die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, und die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft, die keine nicht-nachwachsenden Rohstoffe aus der Umwelt entnimmt und keine Abfallstoffe in sie zurückgibt.
Megatrends sind also heute — mehr noch als es damals schon Naisbitt vorgeworfen wurde — nicht besonders überraschend. Das liegt in ihrem Wesen. Megatrends beschreiben jeweils einen unaufhaltsamen, beständigen, globalen Wandel in allen Bereichen unseres Lebens. Aber gerade weil ein Megatrend nicht nur Produkte, Stimmungen und Märkte beeinflusst, sondern die ganze Gesellschaft, kann er dies nur in der Geschwindigkeit tun, in der sich Gesellschaften ändern. Aus der Vielschichtigkeit eines Megatrends ergibt sich also seine Langsamkeit. Megatrends erlauben Aussagen über die nächsten Jahrzehnte eben weil sie so langsam, so behutsam sind, dass sie über mehrere Jahrzehnte wirken.
Durch ihre Langsamkeit vermögen Megatrends es auch, Hindernisse und Gegenbewegungen zu integrieren, anstatt durch sie aufgehalten zu werden. Das macht Megatrends resilient, aber auch komplex. Und wenn ein Megatrend eben schon seit vielen Jahre zugange ist, hat sich die Bedeutung seiner Bezeichnung möglicherweise schon mehrfach verschoben, um neuen Entwicklungen innerhalb des Megatrends Rechnung zu tragen. Megatrends wirken deshalb weder neu, noch sind sie oft klar definierbar.
Wie haben sich nun also die Megatrends, als wichtigste Trends unserer Zeit, durch Corona verändert? Nimmt man das Konzept der Megatrends ernst, dann sollte die erste Annahme sein: gar nicht, denn Megatrends sind ja resilient und integrieren Einflüsse von außen. Selbstverständlich gilt es, diese Erstannahme weiter zu prüfen. Eine einschneidende Krise wie die Corona-Pandemie verändert Menschen, verändert die Gesellschaft. Und sie verändert auch Megatrends. Aber hat sie Megatrends beendet?
Zu Beginn der Pandemie gab es Prognosen, dass die neue Solidarität im Angesicht eines alle gleich betreffenden Virus den starken Individualismus schwächen könnte. Aber spätestens mit dem Ende der ersten Corona-Welle brach auch die Welle der Solidarität, und mit der zweiten und dritten Welle schwappten eher Querdenker-Bewegung und Impfverweigerung nach oben als Gemeinschaftssinn und Wir-Gefühl. Bei der Bundestagswahl 2021 kamen zu 23 Kleinparteien, die bereits 2017 angetreten waren, 16 neue Parteien hinzu. Diese erhielten 8,6% der Zweitstimmen und damit 3,4 Prozentpunkte mehr als 2017.
Die Globalisierung hat sicher gelitten. Über anderthalb Jahre haben Lockdowns, geschlossene Grenzen und Quarantänepflicht die Mobilität enorm eingeschränkt. Unternehmen mussten feststellen, dass Lieferketten etwas zu fragil waren, als Häfen und Containerschiffe abgeriegelt wurden. Einige essentielle Produktionen werden daher nun wieder in den Nahbereich zurückverlegt. Aber das Nearshoring war dank günstigerer Automatisierung und einer Produktion näher am Konsumenten auch vorher schon ein Phänomen, mit dem der Megatrend Globalisierung klar kam. Es gab Impfstoffnationalismus, aber auch großzügige internationale Hilfslieferungen von Masken und natürlich eine beeindruckende internationale Zusammenarbeit bei der Erforschung des Coronavirus und der Entwicklung von Impfstoffen. Es ist abzusehen, dass sich die Globalisierung in den nächsten Jahren weiter verändern wird, aber es ist unwahrscheinlich, dass plötzlich jegliche Produktion re-nationalisiert und internationale Zusammenarbeit eingestellt wird.
Städte verloren in der Corona-Pandemie an Attraktivität. Stadtbewohnys mussten sich den ganzen Tag über in ihren kleinen Wohnungen ohne Garten aufhalten, während die städtischen Vorzüge eines dichten Kultur- und kulinarischen Angebots wegfielen. Etwa jedes achte Bewohny einer Halbmillionenstadt möchte diese nun innerhalb des nächsten Jahres verlassen. Das Ende des Megatrend Urbanisierung? Nicht wirklich, denn die meisten wollen dann entweder in den unmittelbaren Speckgürtel oder in eine kleine Großstadt (100.000–500.000 Einwohnys) ziehen. Aufs Land wollen hingegen nur wenige. Dass mehr Menschen von der Metropole in die Vororte ziehen als umgekehrt, ist dabei schon seit 2014 der Fall. Urbanisierung sollte schon längst im Sinne von Metropolregionen gedacht werden, statt in engeren Innenstädten. Diese jedoch erfahren im Zuge des Megatrends Urbanisierung auch einen Wandel, der durch Corona möglicherweise noch beschleunigt wird: mehr Grünflächen, mehr Begegnungsorte, kürzere Wege, weniger Autoverkehr.
Es sieht also nicht so aus, als hätte die Corona-Krise selbst dort, wo sie der vorherigen Trendrichtung direkt entgegenstand, Megatrends zum Erliegen gebracht. Auf der anderen Seite hat die Pandemie aber einige Megatrends enorm beschleunigt.
Der Digitalisierungsfortschritt, der in Verwaltung und in Arztpraxen stattgefunden hat, wird uns hoffentlich auch nach der Pandemie weiter zu Gute kommen. Auch viele kleine Läden und Restaurants haben sich wohl oder übel eine Digitalstrategie überlegt. Menschen, die vorher noch nie etwas online bestellt oder videotelefoniert hatten, haben dies inzwischen ausprobiert. Viele von ihnen werden diese Möglichkeiten sicher weiter nutzen.
Vermutlich am größten und wichtigsten war allerdings das gigantische Home-Office-Experiment, das die weltweite Wirtschaft im letzten Jahr durchgeführt hat. Denn in den meisten Unternehmen und für die meisten Büroangestellten klappte die plötzlich erzwungene Umstellung besser als erwartet. Auch wenn die meisten Menschen ins Büro zurückkehren möchten, so bevorzugt die Mehrheit eine nur teilweise Rückkehr. Ein paar Tage die Woche im Home Office, die anderen Tage in der Firma: Hybrid Work scheint zur neuen Normalität zu werden.
„Gewiss, es mag erholsam sein, für eine Weile der täglichen Arbeitsmühle im Büro zu entrinnen. Sie können mehr Zeit bei ihrer Familie verbringen, wenn sie wollen nachts arbeiten statt tagsüber, und vor allem: das leidige Problem, wie man morgens am schnellsten zu seinem Arbeitsplatz kommt und abends, trotz allen Gedränges, in vernünftiger Zeit wieder nach Hause, existiert für sie nicht mehr.“
„Aber nach einiger Zeit beginnt den meisten das Bürogetriebe mit seinem Klatsch und dem persönlichen Kontakt zu den Kollegen zu fehlen. Allein bei sich daheim fühlen sie sich in einer Art hochtechnisierten Isolation.“
So beschrieb allerdings schon 1982 John Naisbitt die Gründe, die zum Home-Office-Büro-Mix führen. Das bedeutet: Wir haben fast 40 Jahre und ein pandemisch erzwungenes Experiment gebraucht, um dort anzukommen, wo uns der Erfinder der Megatrends zukünftig vermutete. Erst jetzt steht das hybride Arbeiten auf der Agenda.
Und selbst da ist der neue Arbeitsmodus bei den meisten Unternehmen noch nicht viel mehr als ein Wunsch, eine Zielsetzung, aber ohne konkrete Strategie der Umsetzung. Sind alle 2, 3 oder 4 Tage im Büro? Sind die Bürotage für alle Angestellten die gleichen, um Meetings vor Ort einfach möglich zu machen? Oder wählen alle selbst, wann sie in Büro kommen wollen? Was bedeutet das dann wiederum für die Büroimmobilien? Denn in der Einsparung dort sehen ja Unternehmen ihren Vorteil am Hybrid-Modell. Wie funktionieren Meetings oder Workshops, wenn eine Gruppe von Menschen vor Ort im Büro ist, aber andere von außerhalb zugeschaltet werden? Wie verhindern wir, dass niemand benachteiligt wird? Geht mit der Ortswahl auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit einher, oder bleibt es da bei Kernzeiten?
In einem langen Artikel hat der ehemalige Chef der Windows-Division bei Microsoft, Steven Sinofsky, kürzlich beschrieben, was Unternehmen bei der Umstellung auf ein echtes digitales Arbeiten bevorsteht. Das meiste von dem, was er beschreibt, ist nicht neu, und wird in einigen Startups und Tech-Unternehmen so auch schon seit Jahren praktiziert. Zwei Gedanken sind aber wesentlich:
“At the broadest level the next years will be about experiments (…) Many different companies will be trying many different approaches all at once. Over time as people move between companies, and as companies rise and fall, a new set of norms and practices will be established. ”
„ The one thing we know is that those that believe things will return to normal except maybe for that one thing, or that we’ll do what we always did just with this one extra step, will be the ones that are ultimately disrupted. That’s how it always happens.“
Es zeigt sich also: selbst wenn jetzt, 39 Jahre nach dem Erscheinen von “Megatrends”, durch ein erzwungenes Experiment viel mehr Menschen und Unternehmen endlich die Erkenntnis erlangt haben, wo es hingehen könnte oder gar sollte, sind wir damit noch lange nicht dort angekommen. Es wird noch viel Herumprobieren nötig sein, bis sich so etwas wie eine “Neue Normalität” etabliert haben, in dem Sinne, wie wir uns nach Normalität sehnen: dass es funktioniert, dass wir uns darauf verlassen können, dass wir uns daran gewöhnen könne und dass wir es nicht mehr erklären müssen. Megatrends sind eben sehr, sehr langsam.
Und leider gibt es neben dem Home Office noch ein weiteres Thema, wo seit etwa 40 Jahren klar ist, wohin die Reise geht und was zu tun ist, sind allerdings erst jetzt so langsam und einigermaßen da angekommen, tatsächlich etwas zu tun.
Ich spreche natürlich vom Klimawandel.
Greta Thunberg hat sich letztes Jahr in einem Tweet über den Wunsch zur Rückkehr zur Normalität geäußert:
“This is the place we call “normal.” But ”normal” was also a crisis, and it’s no place to return to after the pandemic. It’s a place we must leave behind in order to safeguard future living conditions. “
Und legte im Sommer noch mal nach:
“Deadly heatwaves, floods, storms, wildfires, droughts, crop failures…
This is not “the new normal”. We’re at the very beginning of a climate and ecological emergency, and extreme weather events will only become more and more frequent.”
Der Klimafuturist Alex Steffen spricht daher im Zusammenhang mit der Klimakrise schon seit einiger Zeit vom „Next Weird“ — übersetzt vielleicht “Die neue Seltsamkeit”. Das veränderte Klima zieht das Wetter aus dem Bereich heraus, der über die gesamte Menschheitsgeschichte „normal“ war. Der Begriff “Extremwetter” soll ja gerade ausdrücken, dass ein Wetterereignis außerhalb des Normbereichs liegt. Was also, wenn das “Extremwetter” normal wird?
We consider land safe to build homes on if it’s on a 1,000-year floodplain, meaning that in 999 years out of 1,000, it would not normally good. But “normally” isn’t how things work anymore. In a world with more storms, heavier rains and faster snowmelt, that land might flood twice in a single year. Can we describe that floodplain as being the same place it once was? Or does the loss of predictability render it a strange land, and us strangers in it?
Die Art und Weise, wie wir bisher immer Häuser gebaut haben, funktioniert in einem wesentlich heißeren Deutschland plötzlich ebenso nicht mehr. Das Buch “Deutschland 2050” beschreibt konkret die Folgen des Klimawandels für die Bundesrepublik in 30 Jahren in den verschiedenen Bereichen (Natur, Wald, Küste und Wasser, aber auch Landwirtschaft, Tourismus, Städte und Wirtschaft). Nick Reimer, einer der beiden Ko-Autoren, erzählt in einem Interview zerknirscht, wie er selbst bei seinem eigenen Hausbau in Dachgeschoss große Fenster eingebaut hat, obwohl er eigentlich “vom Fach” sei. Das vorhandene Erfahrungswissen, das unser Handeln prägt, werde bis Mitte des Jahrhunderts “grob entwertet”.
Und das ist der Stand für die nächsten zwanzig Jahre, der bereits relativ feststeht. Wenn wir wollen, dass es nicht noch schlimmer kommt, müssen wir endlich ernsthaft mit der Dekarbonisierung der Gesellschaft beginnen. Und auch dieser Umbau wird unsere Welt so radikal verändern, dass wir uns nicht mehr auf unsere Erfahrung verlassen können. Wir haben so lange gezögert, dass die notwendige Transformation inzwischen nicht mehr langsam und moderat funktioniert. Oder wie es Alex Steffen ausdrückt: “All real sustainability is now disruptive.”
Und natürlich ist das Klima nicht die einzige aktuelle Herausforderung — höchstens vielleicht die größte und drängendste.
Tatsächlich haben wir ganz viele solche Mega-Herausforderungen. Zu wahrscheinlich jedem Megatrend gibt es auch ungelöste, aber essentielle Fragen, bei denen wir noch nicht genau wissen, wie wir damit eigentlich umgehen. Manchmal ist das bloß die andere Seite der Medaille — des einen Urbanisierung ist des anderen Wohnungsknappheit — manchmal sind es extreme Auswüchse des Megatrends, manchmal sind es Voraussetzungen für sein erfolgreiches Fortschreiten, manchmal Hindernisse.
Was sie vereint: es sind sogenannte wicked problems, garstige Probleme. Wicked Problems haben keine eindeutige Lösung, möglicherweise nicht mal eine abschließende Liste mit Lösungsvorschlägen. Es kann nicht mal klar gesagt werden, wann sie als wirklich gelöst gelten können. Bei Wicked Problems gibt es weder richtig noch falsch, sondern höchstens besser und schlechter. Weil Lösungsexperimente das Problem verändern, können wir nicht mal über schrittweise Annäherung klare Regeln zur Lösung des Problems finden. Und da jedes Problem Symptom eines anderen Problems ist, sind viele der großen Wicked Problems eng miteinander verknotet. (Einen Versuch, die Zusammenhänge zu visualisieren, hat Christian Sarkar unternommen.)
“Wicked is the (New) Normal”, schrieben Michelle Shevin und David Thompson schon 2017. In pluralistischen Gesellschaften sollten alle gesellschaftlichen, planerischen Fragen als “wicked” angenommen werden, solange nicht klar gezeigt werden kann, dass sie “tame”, zahm sind (anstatt umgekehrt). Da Wicked Problems nie abschließend gelöst werden können, sollten wir uns stattdessen darauf einstellen, Strategien zu entwickeln, mit ihren Facetten und Symptomen besser klar zu kommen (cope), was ständiges neu-denken und -anpassen erfordert. Das Problem besteht dabei weiter fort, bedarf allerdings auch weiterhin hoher Dringlichkeit.
Die Dringlichkeit ist der Grund, weshalb wir den Megatrends unbedingt Mega-Herausforderungen zur Seite stellen sollten. Megatrends schreiten im Trott der Normalität voran, die sie verändern. Wenn ihre neue Normalität da ist, merken wir das oft gar nicht so genau, weil wir die alte Normalität schon vergessen haben. Mega-Herausforderungen aber bergen das Risiko der Diskontinuität. Plötzlich ist alles anders, die alte Normalität funktioniert nicht mehr, aber eine neue ist noch nicht da. ”Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und Wochen, in denen Jahrzehnte passieren” wurde Lenin gerade zu Beginn der Corona-Pandemie gerne zitiert (bzw. zugeschrieben).
Hätte es Covid-19 nie gegeben, säßen wir sicherlich noch alle im Büro und viele Menschen würden die Möglichkeit zum Home Office als utopische Zukunftsmusik betrachten. Telemedizin wäre in Deutschland immer noch größtenteils nicht-existent und E-Commerce hätte keine großen Sprünge gemacht.
In Hinblick auf die Mega-Herausforderungen allerdings würde die Welt vermutlich nicht groß anders aussehen. Das Jahr 2020 begann mit Waldbränden in Australien, einer Flut in Indonesien und einer Jahrhundert-Schneelawine in Kaschmir. Damals-noch-Präsident Trump befand sich noch in seinem ersten Impeachment-Trial und die Welt blickte mit Sorge auf den Iran und die USA, nachdem ein iranischer General bei einem US-Luftangriff in Bagdad getötet worden war. Der “Lösung” der dahinter liegenden Wicked Problems sind wir in den knapp zwei Jahren nicht wirklich näher gekommen, auch wenn sich oberflächliche Details natürlich verändert haben.
Die Corona-Pandemie bot eine gewisse Ablenkung von all den anderen Problemen auf der Welt, und wochenlang wurde kaum ein anderes Thema diskutiert. Fridays for Future, im Herbst 2019 noch im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, konnte nicht mehr in gleicher Stärke und Deutlichkeit für das Klima streiken gehen.
Und dennoch drangen einige Mega-Herausforderungen im Zuge der Covid-Krise deutlicher an die Öffentlichkeit als vorher. Insbesondere die Pflegeknappheit wurde und wird leider immer noch sehr offensichtlich. Aber auch die prekäre Situation anderer Berufe in der Grundversorgung wurde etwas mehr diskutiert, und die Fragilität der globalen Just-in-Time-Logistik eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Im Lockdown wurde urbane Begrünung viel mehr wertgeschätzt, und vielerorts erfreuten sich Menschen daran, dass die Natur (Singvögel, Fische, Schwäne, Ziegen…) “zurückkehrte”. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass selbst die enormen Einschränkungen in Mobilität und sogar Teilen der Produktion nur eine kleine Reduktion des CO2-Ausstoßes bewirkten — was deutlich macht, dass wir ohne einen Umbau unserer wirtschaftlichen Prozesse und Systeme und nur mit individuellem Verzicht die Klimaneutralität nicht erreichen können.
Durch die Corona-Krise gelangen wir nicht zu einer neuen Normalität, weil Normalität, ob alte oder neue, in Anbetracht der revolutionären Transformationen, die wir durchlaufen, in der nächsten Zeit nicht verfügbar ist. Wie Alex Steffen es ausdrückt: “It would be great if we lived in a time whose problems could be solved slowly, thoughtfully and gently. We do not.”
Aber die Corona-Krise könnte eine Chance sein, endlich in einer neuen Wirklichkeit anzukommen, und zwar in der tatsächlichen Wirklichkeit. Wir könnten endlich, mit der Erfahrung der Pandemie im Hinterkopf, vor der Wirklichkeit und ihren Erfordernissen nicht länger die Augen verschließen. Wir könnten anerkennen, dass ständige und enorme Veränderungen uns so oder so, by design or by disaster, bevorstehen, mit denen wir (durch verschiedene Experimente) versuchen müssen klar zu kommen. Wir könnten die Gelegenheit nutzen, wenn uns doch Veränderungen und Anpassungen sowieso bevorstehen, wenn wir sowieso Dinge neu denken werden müssen, gleich auf eine neue, tatsächlich bessere, und stabile Normalität hinzuarbeiten.
Insbesondere die Dekarbonisierung der Gesellschaft scheitert nicht an fehlender Technologie oder an der mangelnden Wirtschaftlichkeit, sondern am Willen, die nötigen Investitionen zu tätigen und sich (psychologisch) auf die nötigen Veränderungen einzulassen.
Eine besondere Rolle kommt hier den Kreativen zu, weil diese sich ja besonders dadurch auszeichnen, Dinge immer noch mal anders zu denken, als sie bisher gedacht wurden. Ihnen sollten die anstehenden Aufgaben daher leichter fallen als anderen. Vor allem aber vermag es die Kreativbranche sowohl, andere Menschen für neue Verhaltensweisen und eine umgestaltete Welt zu gewinnen (man denke da an Werbung, Marketing und Kommunikation), als auch Menschen zum Nachdenken über Missstände anzuregen (man denke an Kunst & Kultur).
Die wichtigste Aufgabe der Kreativbranche in den nächsten Jahren wird daher sein, zu zeigen, dass sich die Anstrengungen, die uns im Umbau zu einer klima- und lebensfreundlichen, “schönen neuen Welt” bevorstehen, lohnen. Sie kann darauf hinarbeiten, dass hier Industrien entstehen könnten, die zukünftige Wünsche erfüllen, statt dass wir weiterhin versuchen, an solchen Industrien festzuhalten, die Dinge herstellen, die uns schon lange vor immer neue Probleme stellen.
Zum Abschluss zwei kleine Beispiele dazu:
Der Hamburger Art Director Jan Kamensky betreibt ein Patreon für “Visual Utopias”, wo er Animationen erstellt, die zeigen, wie schön unsere Städte aussehen könnten, wenn wir sie klimafreundlicher (ohne Verbrenner-Verkehr und wesentlich grüner und fußgängerfreundlicher) gestalten würden. Ein Beispiel für Werbung für die “schöne neue Welt”, auf die es hinzuarbeiten gilt.
Der Künstler Ted Hunt hingegen entwickelt spekulative Kunstwerke, die uns provozieren sollen, den Status Quo zu hinterfragen. Dafür verändert er häufig bestehende Produkte oder Konzepte. So auch seine Variante des McDonald’s-Angebots, das er in einem (inzwischen von seinem Profil entfernten, aber hier erhaltenen) Instagram-Post komplett auf pflanzliche Zutaten umstellt. Der Gedanke dahinter: McDonald’s ist ein global operierendes Unternehmen, das eine getroffene Entscheidung in den meisten Ländern der Welt einfach umsetzen kann, während politische Maßnahmen einer Vielzahl völlig unterschiedlicher politischer Systeme und Ideologien entsprechen müssen. Natürlich ist nicht davon auszugehen, dass McDonald’s eine solche weitreichende Änderung in absehbarer Zeit durchführen wird (der Rollout des McPlant zieht sich schon länger hin, und das ist nur ein einzelnes neues Angebot). Aber die Fragen, die die Spekulation aufwirft, sind interessant: Würden pflanzenbasierte Burger mehr oder weniger kosten als solche aus Fleisch? Wie viel Emissionen würden durch die Änderung eingespart werden, und wie hoch müssten die Einsparungen sein, dass wir zugunsten zukünftiger Generationen auf unser eigenes unverändertes Geschmackserlebnis verzichten würden?
Ein drittes Beispiel, die “Mitigation of Shock” der Londoner Designagentur Superflux, die mit einem abschreckendes Beispiel einer von der Klimakatastrophe veränderten Welt zum Nachdenken anregt, habe ich in einem separaten Blogpost beleuchtet.